Schulleiter Gerd Kube erörterte in seinem Vortrag am GV sein Verständnis von gymnasialer Bildung.

(Vortrag von Gerd Kube im Gymnasium Voerde am 20.9.2016)

1. Wilhelm von Humboldts Verständnis von Bildung

Zu behaupten, das Gymnasium sei tot und zugleich in einem der schönsten Gymnasien der Region zu sitzen, um jemandem zuzuhören, der ausgebildeter Gymnasiallehrer ist und lebt, hat etwas Verwirrendes. Man wird annehmen dürfen, dass entweder der Vortragende verwirrt ist oder er von etwas anderem spricht, von etwas, das nicht mit dem Voerder Gymnasium identisch ist. Ich hoffe, dass Sie das Zweite annehmen.

Wir kennen das alle aus den Krimis: Bevor jemand offiziell als tot erklärt wird, muss die Leiche zweifelsfrei identifiziert werden. In der Regel tun das die nächsten Angehörigen, weil sie den Verstorbenen am besten kennen. Wenn wir also vom Tod des Gymnasiums sprechen, gilt es zuvor zu klären, ob es sich tatsächlich um die Schulform Gymnasium handelt und nicht etwa um die Realschule, die ja in der letzten Zeit bekanntermaßen so manchen politischen Dolchstoß erhalten hat. Dass die Gesamtschule nicht gemeint sein kann, garantiert uns ja die Landesregierung, die für ihre unkontrollierte Vermehrung sorgt.

Das Gymnasium zweifelsfrei zu identifizieren, ist durchaus schwieriger, als dies bei einer Wasserleiche der Fall ist, die man zur vollständigen und sicheren Tötung noch verbrannt hat. Wir wissen aus den CSI-Serien, dass selbst Bruchstücke einer Leiche ausreichen, um mit Hilfe modernster Technik festzustellen, dass der Tote Plattfüße hatte, Linkshänder war, seinen Kaffee schwarz trank und Herr Meier hieß.

Beim Gymnasium ist das nicht so einfach. Es ist – je nachdem, wo man ansetzt – auf jeden Fall älter als 200 Jahre und hat sich in dieser Zeit entwickelt. Mit welchem Recht darf ich sagen, das Gymnasium sei tot, wenn nach wie vor eine Schulform existiert, die sich selbst in diese über zweihundertjährige Geschichte einordnet? Wie komme ich dazu, die aktuelle Erscheinungsform des Gymnasiums als Gespenst zu bezeichnen und nicht mehr in der Kontinuität von etwas zu sehen, das über 200 Jahre Bestand hatte? Welche aktuellen Entwicklungen des Gymnasiums erlauben es mir, einen Traditionsabbruch anzunehmen? Ich hoffe, dass ich das in meinen folgenden Thesen deutlich machen kann.

Wenn wir nun eine Identifikation des Gymnasiums vornehmen, dann ist es klug, sich an den zu wenden, der diese Schulform am besten kennt und dessen Einfluss auf das Gymnasium bis heute erkenn-, messbar und kaum zu überschätzen ist. Ich rede natürlich von Wilhelm von Humboldt, der von 1809 bis 1810 Direktor der Sektion für Kultur und Unterricht im preußischen Ministerium des Inneren war, und in dieser kurzen Zeit bahnbrechende Reformen in einem liberalen und humanistischen Geist auf dem gesamten Bildungssektor durchgeführt hat.

Humboldts Ideen waren und sind bahnbrechend, weil sie ganz und gar den Menschen im Blick haben und nicht zulassen, dass der zu Bildende zum Mittel für einen fremden Zweck wird. Dieses Ausgerichtetsein auf den Menschen und seine Bedürfnisse sorgte über Jahrhunderte für die hohe Akzeptanz der Humboldtschen Bildungsphilosophie, die übrigens Fragment geblieben ist.

Wenn ich nun einige von Humboldts Kernthesen zur Bildung darstelle, dann tue ich das unter Verzicht auf Originalzitate. Humboldts Sprache ist für uns Heutige nicht immer eingängig. Wollte ich von Originalzitaten ausgehen, müssten sie detailliert analysiert und interpretiert werden. Das aber sprengt diesen Vortrag. Sie dürfen davon ausgehen, dass ich diese Arbeit an meinem häuslichen Schreibtisch geleistet habe. Jede der folgenden Thesen ist belegbar.

1.1 Über die Wechselwirkung von Ich und Welt

Wenn Humboldt von Bildung spricht, dann meint er damit zunächst einen ganz einfachen Vorgang, nämlich die Wechselwirkung zwischen einem Ich und der dieses Ich umgebenden Welt (2, 5). Schon an dieser Stelle bemerken wir die Ganzheitlichkeit in Humboldts Bildungsdenken. Immerhin geht es um das Ich und nicht bloß um einen Teilbereich des Menschen, seine Intelligenz oder seine Merkfähigkeit.

Besitzt dieses Ich nun eine Empfänglichkeit für einen Gegenstand in der Welt, wobei Humboldt fast immer von theoretischen Gegenständen ausgeht, setzt die erwähnte Wechselwirkung ein, an deren Ende sowohl die Welt als auch das Ich ein wenig verändert sind (10, 13).

Humboldt wird nicht müde zu betonen, wie wichtig es doch sei, dass der Mensch sich die Welt geradezu einverleibe (11,14). Er kann und mag sich im Kontext von Bildung nicht vorstellen, dass es eine Welt- und Ich verändernde Wechselwirkung ohne tiefste innere Beteiligung gibt (8). Ein Auswendiglernen des Periodensystems, ein stures Einpauken von Geschichtszahlen habe nichts mit Bildung zu tun, sondern zerstöre sie geradezu (1). Wer Bildung oder Wissenschaft mit einem Sammeln von Fakten gleichsetze, der zerstöre beide, und zwar unwiederbringlich.

Was geschieht aber, wenn der Mensch aufgrund einer echten Empfänglichkeit für einen Gegenstand diesen in sich aufgenommen hat? Dann folgen nach Humboldt zwei weitere Schritte. Im Rahmen des einen wird das Wahrgenommene zu einer Idee geformt, und im Rahmen des letzten Schrittes wird diese Idee in der Welt verwirklicht. So ergibt sich der Dreischritt a) Einverleiben der Welt, b) Umformung des Wahrgenommenen zu einer Idee, c) Verwirklichung der Idee in der Welt (11).

Stellen wir uns einen jungen, bildungshungrigen Erdenbürger vor, der am Rhein sitzend mit den dort liegenden Kieselsteinen spielt. Während des Spiels formt sich in seinem Kopf die Frage: ‚Warum fällt der Kieselstein auf den Boden, wenn ich ihn loslasse? Selbst, wenn ich ihn in die Luft werfe, fällt er schon nach kurzer Zeit auf die Erde. Warum bleibt er nicht in der Luft? Und warum fällt das Papier – obwohl es doch wegen seiner Leichtigkeit wunderbar schweben könnte – auch irgendwann auf den Boden? Wir schauen unserem jungen Erdenbürger in einem Moment zu, wo er gerade dabei ist, sich ein Stück Welt einzuverleiben. Und weil ihn seine Fragen nicht loslassen und er ein kluger Kopf ist, bildet sich in ihm langsam eine Idee. Und die lautet: Da muss es irgendwo eine Kraft geben, die meinen Stein und das Papier nach unten ziehen. Und genau diese Idee baut unser kleiner Streber in sein Weltverständnis ein, das heißt, er wendet sie an. Noch hat er mit seiner Idee nicht die Welt verändert, vielleicht kommt das ja noch, aber ein Weltausschnitt hat ihn verändert (13).

Wenn die moderne Schulpädagogik glaubt, vor allem den Aspekt der Anwendung von Wissen betonen zu müssen, dann sei erwidert: Das war für Humboldt eine klare Selbstverständlichkeit. Handlungsorientierung als eine Errungenschaft moderner Didaktik anzusehen, ist witzig.

1.2 Über Wissenserwerb und Charakterbildung

Noch ist nicht hinreichend geklärt, welche Qualität die innerseelischen Veränderungen im Menschen haben sollen, wenn er sich mit der ihn umgebenden Welt auf welche Weise auch immer auseinandersetzt. Humboldt hat diese Frage sehr eindeutig und mit großem Nachdruck beantwortet. Bei aller Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt kommt es selbstverständlich auf den Erwerb von allgemeiner Bildung, aber vor allem auf eine Formung des Charakters an (1, 3). Humboldt kann auch von „Gesinnung“ (1), „Weisheit“ und „Tugend“ (3) sprechen. Der noch ungebildete Mensch soll am Weltgegenstand zum Menschen werden, und das gelingt selbstverständlich nicht mit allen Gegenständen der Welt, sondern vornehmlich und exemplarisch geschieht dies in einer intensiven Beschäftigung mit der griechisch-römischen Antike. Humboldt ging davon aus, dass eine engagierte Auseinandersetzung mit den Griechen, ihrer Philosophie, ihrem Staatsverständnis, ihrer Kunst und Sprache Menschen zu besseren Menschen mache, vorausgesetzt diese Auseinandersetzung vollzieht sich unter einer Beteiligung des ganzen Menschen und nicht nur seiner kognitiven Fähigkeiten. Wenn der Philosoph Robert Spaemann heute schreibt, dass Bildung auch bedeute, den Menschen fähig zur Bildung von Freundschaften zu machen, dann steckt auch dahinter die Humboldtsche Forderung nach einer ganzheitlichen Bildung.

Humboldt wusste, dass Bildung Menschenbildung und nicht Ausbildung für etwas bedeutet. Sie sollte junge Menschen formen, und zwar zu dem, was in ihnen selbst angelegt war und exemplarisch bei den Griechen zum Vorschein gekommen ist. Die griechisch-römische Antike zeigte für ihn, was sein kann, wenn der Mensch sich in bester Weise entwickelt. Insofern bedeutete die Orientierung an den Griechen für Humboldt keine Hinwendung zu fremden Zielen, sondern ein Sich-öffnen für ein menschliches Ideal. Und eines dieser Ideale bestand in einer ausgewogenen Entwicklung aller menschlichen Kräfte. Eine zu frühe Vereinseitigung der Bildung führe zu einem menschlichen Torso, mit dem im Übrigen auch die Gesellschaft und die Arbeitswelt nichts anfangen könne. Die Griechen hätten vor allem in der Kunst gezeigt, was eine Ausgewogenheit aller menschlichen Kräfte bedeute. Humboldt sprach wörtlich von der „höchsten und proportionierlichsten Bildung“ der Kräfte des Menschen „zu einem Ganzen“ (25, HW I. S.64).

Bemerkenswert daran ist nicht nur Humboldts Griechen-Begeisterung, sondern auch seine Überzeugung, dass Pädagogik stets werteorientiert zu sein hat und diese Werte das Wohl des Menschen im Blick haben müssen. Damit ist sie anthropologisch begründet und eben nicht kirchlich oder elitär, wie zur Zeit Humboldts, oder wirtschaftlich, politisch oder technisch wie es heute allenthalben geschieht. Nicht zuletzt durch Humboldt erfuhr der Bildungsbegriff eine starke anthropozentrische Neuakzentuierung (Konrad. 38f).

1.3 Zur Forderung von Freiheit und Einsamkeit für den Bildungsprozess

Folgen wir unserem Gewährsmann noch einige Schritte, die uns dann etwas näher in die Praxis und an den Ort der Bildung führen. Humboldt war ein liberaler und durchaus staatskritischer Denker. Und so verwundert es nicht, wenn er den Einfluss des Staates auf das Bildungssystem beschränken wollte. So waren für ihn die leitenden Prinzipien schulischer und universitärer Bildung Freiheit und Einsamkeit. Vor allem der Freiheitsaspekt folgt konsequent Humboldts eigener Bildungsphilosophie. Denn wer unter Bildung versteht, dass ein Mensch nicht fremden Zwecken, sondern nur einem eigenen Ideal folgend sein Selbst entfaltet, der muss Freiheit fordern. Schulen benötigen für ihren Bildungsauftrag eine Freiheit von, damit sie frei sind für, nämlich für die ihnen anvertrauten Menschen, die wiederum von Fremdbestimmungen frei sein müssen, damit sie sich zu ausgewogenen Persönlichkeiten entwickeln können.

Was aber meint Humboldt, wenn er Einsamkeit zu einem Leitprinzip der Bildung macht? Lässt sich nicht wenigstens dieser Aspekt aus Sicht der modernen pädagogischen Wissenschaft als völlig überholt beschreiben? Haben wir nicht erkannt, wie wichtig der soziale Aspekt des Lernens ist? Wissen wir nicht spätestens seit Kleist, dass es des kontrovers geführten Gesprächs mit anderen bedarf, damit Erkenntnisse entstehen? Humboldt würde dem zustimmen und dennoch die Einsamkeit zum Leitprinzip der Bildung erklären.

Dass er widerspruchsfrei so argumentieren konnte, hängt mit dem oben Gesagten zusammen. Demnach ist Bildung ein innerseelischer Prozess, der den ganzen Menschen erfasst. Bildung ist mehr als eine Ansammlung von Wissen. Sie verändert den Menschen, indem sie sein Innerstes berührt und formt. Und das kann nur ein individueller und deshalb einsamer Prozess sein.

Der Begriff der Einsamkeit betont außerdem, dass die Ausbildung individuellen Seins vom Menschen selbst abhängt. Auch wenn ihm nach Humboldt ein Streben nach einem Ideal als innere Dynamik schon mitgegeben ist und zu seiner Grundausstattung gehört, ist der Einzelne in der Verantwortung dieser unbestimmten Dynamik Richtung und Form zu geben, das heißt sich zu bilden. Bildung geschieht nicht automatisch. Sie muss gewollt und erarbeitet werden.

Selbstverständlich weiß Humboldt um die Bedeutung menschlicher Begegnung, gemeinsamen Denkens und Tuns. Vielleicht wäre er sogar mit unserer Sozialform Gruppenarbeit einverstanden. Aber er würde uns nicht im Zweifel darüber lassen, dass die ausgefeiltesten Sozialformen und Unterrichtsmethoden sich im belanglosen Vorfeld der Bildung bewegten und wir uns als Lehrpersonen nicht einbilden dürfen, dass mit ihnen irgendetwas Wesentliches gewonnen sei.

Mit der Forderung nach Freiheit und Einsamkeit korrespondieren Humboldts Ansprüche an den institutionellen Rahmen von Schule und Universität. Denn dieser habe dafür zu sorgen, dass sowohl „Ungezwungenheit“ als auch „Absichtslosigkeit“ herrschen (6). Beide Aspekte verdeutlichen noch einmal das Besondere einer Bildungsatmosphäre. Sie hat frei zu sein von einer von außen an sie herangetragenen Zweckbestimmung: Die Schule muss ab Klasse fünf auf die Berufs- und Arbeitswelt vorbereiten. Die Schule muss sich um Drogen-Prophylaxe und Gesundheitsvorsorge kümmern. Die Schule muss sozialpädagogisch tätig werden. Die Schule muss alle mitnehmen. Die Schule muss den Ausfall an familiärer Erziehung kompensieren, Lernbehinderte und Flüchtlinge integrieren. Die Schule muss testen, diagnostizieren, therapieren und stets optimistisch sein. Die Schule muss möglichst vielen einen möglichst hohen Abschluss ermöglichen.

Statt von Ungezwungenheit und Absichtslosigkeit bestimmt, werden heutige Gymnasien von einer Flutwelle divergierender Absichten und Zwänge überrollt, die es zerreißen werden. Schon jetzt sorgt die Flutwelle fremder Absichten für eine Ersetzung der Bildung durch Auswendiglernen. Denn Bildung braucht neben einer ungezwungenen Atmosphäre Zeit und Muße, die wir beide nicht mehr haben.

1.4 Über die zeitliche Vorordnung allgemeiner vor beruflicher Bildung

Ein letzter Aspekt aus Humboldts Pädagogik sei noch erwähnt. Er hängt im Übrigen mit dem soeben Dargestellten zusammen. Unser Bildungsphilosoph konnte zuweilen sehr zynisch werden. Das war immer dann der Fall, wenn es um Ort und Zeit der beruflichen Ausbildung ging. Für ihn war es undenkbar, dass man die allgemeine Bildung und die berufliche Ausbildung vermischte. Man habe sich an eine strenge Reihenfolge zu halten, die so aussieht: Zuerst muss in Freiheit und Muße die allgemeine Menschenbildung erfolgen. Erst wenn dies gelungen sei, könne man mit einer Spezialausbildung beginnen. Eine Vermischung allgemeinbildender Inhalte mit berufsorientierten hätte eine zweifache Halbbildung zum Ergebnis. Weder erhielte man einen charaktervollen noch einen beruflichen versierten Menschen, weder eine gesunde, mündige Persönlichkeit noch einen verantwortlichen Staatsbürger.

Eine vorzeitige Ausrichtung der Bildung auf einen Zweck, der nicht identisch ist mit dem Menschen selbst, zerstört Bildung, das war Humboldts Ansatz.

Bevor wir auf die aktuelle Bildungsrealität eingehen und sie an Humboldts Ideen messen, möchte ich in acht Thesen seine Bildungsphilosophie zusammenfassen. Wir werden sehen, dass wir seinen Ansatz als zutiefst menschlich, als bildungstheoretische Verwirklichung von Kants Selbstzweckformel verstehen dürfen. Kant hatte den Imperativ formuliert, dass man den Menschen niemals bloß als Mittel für etwas, sondern stets als Wesen, das seinen Zweck in sich selbst trägt, betrachten und behandeln solle. Der Blick auf die aktuelle Bildungspolitik wird später zeigen, dass von einer Erfüllung dieser Maxime heute nicht mehr die Rede sein kann.

1.5 Zusammenfassung zu Humboldts Bildungsverständnis

These eins:

Humboldt vertritt ein ganzheitliches Bildungsverständnis. Immer ist der ganze Mensch, seine kognitiven und seine emotionalen Fähigkeiten, seine Begeisterungsfähigkeit für die Dinge der Welt und ihre intellektuelle Aneignung gemeint, wenn es um Bildung geht. Zur Ganzheitlichkeit dieses Verständnisses gehört auch eine selbstverständliche Handlungsorientierung.

These zwei:

Vor diesem Hintergrund verbietet es sich, Bildung mit einer Anhäufung von Fakten gleichzusetzen. Denn eine solche ist möglich, ohne Beteiligung des ganzen Menschen. Die Aneignung von Fakten ist ein untergeordneter Teilaspekt von Bildung, eine Folge der Weltaneignung und nicht mehr.

These drei:

Mit dem Ganzheitlichkeitsaspekt in Humboldts Bildungsverständnis korrespondiert seine Überzeugung, dass Bildung stets Charakterbildung zu sein hat. Bildung verändert wechselseitig Mensch und Welt, oder sie ist keine Bildung.

These vier:

Dass Bildung den Menschen, seinen Charakter zu formen habe, wirft die Frage nach dem Menschenbild auf. Woraufhin soll der Mensch entworfen werden? Es muss ein Bild sein, das sich am Menschen selbst orientiert und nicht an kirchlichen, politischen, wirtschaftlichen oder anderen Weltanschauungen. Aus diesem Grunde ist eine Offenlegung des Menschenbildes, das hinter der Erziehung steht, zentral. Für Humboldt liegt das „Woraufhin“ der Bildung im Menschen selbst.

These fünf:

Werte, die sich an der griechischen Klassik orientieren, prägen sein Menschenbild. Sie sind nichts dem Menschen Fremdes, sondern verkörpern in idealer Weise ein gelebtes Menschsein, an dem zu orientieren sich lohnt. Damit ist festzuhalten, dass Humboldt sich keine Bildung ohne eine explizite Werte-Orientierung vorstellen kann. Und Humboldt wusste, dass sich aus der Beobachtung der Natur keine Werte extrahieren lassen. Werte-Bildung setzt immer einen Maßstab von außerhalb voraus. Für ihn lieferte die griechische Klassik diesen Maßstab.

These sechs:

Humboldt geht grundsätzlich von einem positiven Menschenbild ohne tiefe Risse aus. Seine Bildungsphilosophie gründet in der Überzeugung des Humanismus, dass der Mensch das in ihm angelegte Gute zu entfalten habe. Dem Menschen sei zwar eine innere Dynamik zu eigen, die ihn vorantreibe, sich zu einer ausgewogenen Persönlichkeit zu entwickeln. Dennoch bedürfe es der Kräfte des Wollens und Tuns, eigener Bildungsarbeit, damit aus einer inneren Möglichkeit Wirklichkeit wird.

These sieben:

Damit Bildung geschehen kann, bedarf es der Freiheit und der Einsamkeit. Während Freiheit dafür sorgt, dass der Prozess der Weltaneignung ungezwungen geschehen kann, garantiert die Einsamkeit, dass es tatsächlich zu einer ernsthaften individuellen Auseinandersetzung mit den Dingen der Welt kommt. Dass Bildung frei zu sein habe, ist ein elementarer Grundsatz, der für nahezu zweihundert Jahre Schulen und Universitäten geprägt hat und den wir im Begriffe sind zu verlieren.

These acht:

Jeder Berufsorientierung hat eine allgemeine Bildung im Sinne der Thesen eins bis sieben voranzugehen. Werden die zwei Bildungsansätze vermischt, wie es heute in nie dagewesener Weise geschieht, verlieren wir beides: den Menschen mit Charakter und den Experten seines Faches.

  1. Die Geschichte von PISA

Mit dieser These beenden wir die kurze Darstellung von Humboldts Bildungsphilosophie und wenden uns der aktuellen Schulsituation zu, um sie mit Humboldtschen Ideen zu konfrontieren. Sie bilden für uns die Folie für eine kritische Analyse des bildungspolitischen Zeitgeistes und seiner Folgen. Wir werden sehen, wie Recht doch Jürgen Rüttgers 1987 mit seiner Anmerkung hatte: „Humboldt ist tot.“ Gemessen an den für etwa 200 Jahre geltenden Grundpfeilern gymnasialer Bildung wird man Rüttgers zustimmen, aber seine Feststellung erweitern müssen, so dass sie heute lautet: „Humboldt und das Gymnasium sind tot.“ Diese These möchte ich im Folgenden belegen.

Um zu verstehen, welcher Geist im aktuellen Schulsystem weht, müssen wir einige Jahre zurückgehen, um nach der Initialzündung dieses modernen Geistes, der nicht mehr der Geist des Humanismus ist, zu suchen. Die Frage, wann und womit die tiefgreifenden Veränderungen in unserem Schulsystem beginnen, ist heute gut erforscht. Im Gründungsjahr der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), 1961, fand eine „erste Konferenz der OECD (…) zum Thema ‚Economic Growth and Investment in Education‘“ statt und hatte in der Folge eine enorme „Signalwirkung. Bildung wurde (…) auch in Westdeutschland als Humankapital und Faktor der internationalen Konkurrenzfähigkeit des Landes thematisiert“ (Zymek, 181-182; zitiert nach R. Zaiser. Kompetenz verleiht Flügel. S. 24. 2016). Damit war ein Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik eingeläutet. Fortan war es das Ziel zur Erleichterung und Förderung wirtschaftlicher Zusammenarbeit international einheitliche Bildungsstandards durchzusetzen. Die Väter des neuen Geistes in der Bildungspolitik waren Wirtschaftswissenschaftler und Politiker, keine Pädagogen.

Wenig später konnte man international einen Trend zur Evaluierung der Schulsysteme ausmachen (Zaiser.25). 2001 sucht uns PISA heim und stellt dem deutschen Schulsystem eine katastrophale Diagnose. Der sogenannte PISA-Schock erschüttert Deutschland – kein schlechter Zeitpunkt für eine Reform des Schulsystems, wie die Befürworter einer an wirtschaftlichen Erfordernissen orientierten Bildungspolitik richtig erkannten. Um einem Missverständnis vorzubeugen. Die Position, die ich hier entfalte, ist keine wirtschaftskritische, sondern eine bildungskritische, die den Bildungstheoretikern vorwirft, sowohl im Bereich der pädagogischen Anthropologie als auch in ethischer Hinsicht verantwortungslose Positionen zu vertreten und durchzusetzen.

PISA ward also geboren. Mit diesem Instrument versprach man, der deutschen Bildungskatastrophe zu Leibe rücken zu wollen. Es wurde und wird evaluiert, was das Zeug hält. Sehr schnell war eines klar. Evaluieren, also schulische Leistung messen, kann man nur, wenn das zu Untersuchende dem Kriterium der Messbarkeit entspricht. Folglich mussten schulische Bildungsanstrengungen diesem Kriterium genügen. PISA bedeutet schlicht und einfach, dass nicht ernsthaft unterrichtet werden soll, was nicht auch gemessen werden kann.

Humboldt soll ein ausgesprochen humorvoller Mensch gewesen sein. Er hätte meine letzte Anmerkung für den Witz des Jahrhunderts gehalten. Denn selbstverständlich lassen sich Einstellungen, Willensausprägungen, ethische Grundhaltungen, Leidenschaft, Begeisterung, Religiosität, Liebe nicht messen. Und die hielt Humboldt für wesentliche Eigenschaften eines mündigen Menschen. Roland Reichenbach schreibt 2013: „Doch ob man beispielsweise Verlässlichkeit, Ehrlichkeit oder die pädagogisch so bedeutsame Tugend wie die Geduld, aber auch Vorschussvertrauen, Beständigkeit, Zuversicht und Heiterkeit kompetenztheoretisch fassen kann (und soll), erscheint mehr als fraglich.“ (48)

Humboldt würde, in unsere Zeit reinkarniert, jüngste Entfesselungen in der Wirtschaft in einen unmittelbaren Zusammenhang mit PISA, der Kompetenzorientierung und der damit einhergehenden Entleerung der Bildung stellen. Und er würde herzlich über unsere Dummheit lachen….

  1. Zur Kompetenzorientierung als Konsequenz aus PISA

Bildete PISA die eine Seite der neuen Bildungsmedaille, so die Kompetenzorientierung ihre andere. Beindruckt von wirtschaftsenglischen Floskeln beschrieb man den Prozess der Neuorientierung als Outputorientieung im Gegensatz zur alten Inputorientierung. Schon diese flache Gegenüberstellung des vermeintlich Alten mit dem revolutionär Neuen war eher propagandistisch als stimmig. Denn selbstverständlich ließ sich das Humboldtsche Ideal nicht unter dem Begriff „Input-Pädagogik“ fassen.

Aber zurück zur sogenannten Outputorientierung. Was bei ihr herauszukommen hatte, nannte man die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Ich bin immer wieder beeindruckt, mit welcher Treffsicherheit man für die zu benennende Sache den unschärfsten aller Begriffe verwendete, der sich denken lässt. Kürzlich warben ein Bekleidungsgeschäft mit seiner Hosenkompetenz, ein Frisör mit seiner Haarkompetenz, ein Metzger mit seiner Sommerkompetenz in Sachen Grillfleisch, kompetent bei Verstopfungen hilft ein Abführmittel. Die Alltagswelt steckt voller Kompetenzen, und unser Bildungssystem normiert derzeit kompetente Schülerinnen und Schüler, die sich nahtlos in eine kompetente Welt einfügen sollen.

Schauen wir uns nun an, was die pädagogische Wissenschaft unter Kompetenz versteht: Klieme schreibt: „Kom­petenzen spiegeln die grundlegenden Handlungsanforderungen, denen Schülerinnen und Schüler in der Domäne (= Gegenstandsbereich) ausgesetzt sind.“
(Klieme, E. u.a.: Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards)

Es geht also in Schulen darum, junge Menschen so auszubilden, dass sie befähigt werden, in beliebigen Situationen formal und technisch richtig zu handeln. Weil messbare „Handlungsoptionenkompetenzen“ gefordert, die an beliebigen Inhalten trainierbar sind, werden in aktuellen Lehrplänen die früheren Inhaltslisten durch eine akribische Auflistung kleiner und kleinster Kompetenzen ersetzt. Unsere Schülerinnen und Schüler werden zwar mit Analysekompetenzen vorzüglich ausgestattet. Gleichzeitig wirkt jedoch der Kompetenzlehrpaln streng „entmoralisiert“, wie Reichenbach feststellt (2013.48). Künftige Schülergenerationen werden ausgezeichnet den Playboy sprachlich auseinander nehmen können, ohne jedoch eine feine ethisch-moralische Antenne für Menschen verachtende Äußerungen und Bilder entwickelt zu haben.

Die Befürworter der Kompetenzorientierung halten gern dagegen, indem sie darauf verweisen, man sei doch auch heute noch frei, als wertvoll erachtete Inhalte auszuwählen und im Unterricht zu behandeln. Doch geht es darum nicht. Hinter einer Orientierung an etwas steht immer ein Werturteil, das eine Hierarchie und mit ihr den entscheidenden Orientierungspunkt begründet und festlegt. Wer für unser Bildungssystem eine Orientierung an Kompetenzen ausruft, und genau das ist der Fall, wünscht eben keine an Inhalten. Kompetenz vor Inhalt, das ist die Rangfolge, die sichtbar wird.

Die Entstehungsgeschichte von PISA und Kompetenzorientierung im Blick behaltend können wir mit einiger Sicherheit feststellen: Der Homo Öconomicus, wie ihn sich die OECD vorstellt, das ist das von den Bildungsinstitutionen zu realisierende Bild vom neuen Menschen. Dieses stand Pate, als man die Kompetenzorientierung aus der Taufe hob. Damit war auch der Wertekanon klar: Nicht der ausgewogene, an den Idealen der griechischen Klassik sich bildende Mensch ist das Ziel, sondern der handlungskompetente Mensch mit einem flexiblen, allseits offenen Wertereservoir, in das sich leicht die Werte einspeisen lassen, die gerade en vogue sind und die Wirtschaftskraft fördern.

Diese Ausführungen haben keinen verschwörungstheoretischen Hintergrund, wie man vielleicht meinen oder hoffen könnte, sondern sie lassen sich verifizieren. Die OECD hat 1997 ein Programm mit dem Titel DeSeCo (Definition and Selection of Competencies) initiiert, das vom Bundesamt für Statistik der Schweiz umgesetzt wird. Statistiker und nicht Pädagogen definieren die Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen (siehe Richard Zaiser. Kompetenz verleiht Flügel. S. 29. 2016).

Statistiker sammeln empirische Daten und werten sie aus. Ihr berufliches Interesse zielt nicht auf das, was war oder sein sollte. Sie bilden ab, was sich machtvoll im Jetzt zeigt, ohne es zu bewerten. Folgt man jedoch dem, was sie als Trend erkennen, hat man bewertet. Man hat sich entschieden, vor einer wie auch immer begründeten Macht dessen, was ist, zu kapitulieren. Spätestens hier würde Humboldt nicht mehr lachen, sondern sich vor einer staatlich sanktionierten Verbiegung junger Menschen fürchten.

Es handelt sich um eine elementare und fatale Grundentscheidung in unserem Bildungssystem, nicht um einen zu vernachlässigen Nebenaspekt, wenn aktuelle Lehrpläne kompetenzorientiert arbeiten. Der Hinweis, es gebe für uns Lehrer immer noch die Möglichkeit individueller Stoffauswahl, versteht das Problem nicht.

Die Geschichte der Kompetenzorientierung seit ihrer Einführung ist eine Geschichte zunehmender Kleinschrittigkeit bei der Kompetenzbeschreibung. Wird der Weg einer Kompetenzorientierung erst einmal beschritten, führt er mit einer zwingenden inneren Logik zu immer feineren Differenzierungen von Kompetenzen, Unter-Kompetenzen, Unter-Unter-Kompetenzen, Unter-Unter-Kompetenzen ersten Grades, zweiten Grades und so weiter. Wir wissen, warum dies geschieht. Nämlich, weil durch eine Zerlegung der Kompetenzen in kleinste Einheiten die Messgenauigkeit steigt und mit der Messgenauigkeit das Maß der Überprüfbarkeit und mit ihm die Datenbasis für die nächste Schulreform.

Es trifft zu, was ich oben festgestellt habe, nämlich dass mit dem Verlust einer Inhaltsorientierung eine Entmoralisierung der Lehrpläne einhergeht. Wer aber nun glaubt, dass wir dadurch an Freiheit gewonnen hätten, der irrt. Denn an die Stelle ethisch-moralischer Implikationen der alten Inhaltslehrpläne treten in hundert- ja tausendfacher Ausfaltung Kompetenzvorgaben, die wir mit unseren Schülern zu erfüllen haben. Der Österreichische Grundschullehrplan kennt insgesamt 4000 Kompetenzen für die Zwerge (siehe Liessmann). Reichenbach hat diesen Vorgang sehr zutreffend, wie ich meine, mit dem Begriff der „normativen Empirie“ (48) beschrieben.

  1. Über den Glauben an die Methode

Wir Lehrerinnen und Lehrer sind nicht frei, uns diesem Normierungsprozess zu entziehen, aber wir nehmen nur mit Unbehagen an ihm teil. Eine Begleiterscheinung dieses Prozesses ist ein Diskursverlust in den Lehrerzimmern. In ihnen finden kaum noch Diskussionen über die großen Erzählungen der Menschheit, zur Ideologiekritik, über Ethik und Politik, über Religion, Kunst und Literatur statt, sondern man parliert über Methoden des Unterrichts.

Denn zu jeder Kompetenz gehört eine passende Methode. Oder anders ausgedrückt: Die richtige Unterrichtsmethode, richtig angewendet öffnet die Tür ins Reich der Kompetenzen. Die Methode ist der moderne Schlüssel zu aller Veränderung. Seit Klippert, dem deutschen Papst der unterrichtsmethodischen Revolution, überfluten Bücher über Methoden des angemessenen Lehrens und Lernens den Markt.

Mit Recht hat man die alte Überzeugung, das Unterrichten sei eine Kunst, kritisiert und ihr entgegengesetzt, dass dieses Denken zu einem unwissenschaftlichen und unüberprüfbaren Verständnis des Lehr-Lernprozesses führe. Heute ist an die Stelle der alten Unterrichts-Kunst ein technokratisches Verständnis von Unterricht getreten, das den Faktor Mensch zu minimieren sucht, weil er die Messbarkeit erschwert. Ich halte das nicht für eine Lösung des Problems.

Lassen Sie mich einen Blick in die Praxis werfen. Als Schulleiter habe ich mehrmals im Jahr den Vorsitz bei Lehramtsprüfungen zu übernehmen. Nicht selten wird die Kommission Zeuge einer Unterrichtsveranstaltung, die man als kleines Methoden-Kunstwerk beschreiben könnte. Ein perfekter Einsatz von Methoden, ein richtiges Zeitmanagement, sparsame und gezielte Moderationen der Lehrerin / des Lehrers sorgen für einen reibungslosen Ablauf der Stunde. Die SuS wechseln zwischen Bewegung, Miteinanderreden, Schreiben, Zuhören und Präsentieren, dass es nur so seine Bewandtnis hat. Unterrichtsstörungen treten sehr wenig bis gar nicht auf, und am Ende steht eine strahlende Lehrperson, die glücklich ist, der Prüfungskommission eine Stunde präsentiert zu haben, die völlig konfliktfrei und insofern reibungslos verlaufen ist. Allerdings war die Lernprogression so minimal, dass man eher von einer klug inszenierten gruppendynamischen Show als von Unterricht sprechen sollte. Die Schüler haben an keinem Bildungsprozess teilgenommen, sondern waren Opfer einer geschickt angelegten und höchst manipulativen Veranstaltung, einer Veranstaltung, die denkbar weit von Humboldts Freiheitsidee und seiner Forderung nach Einsamkeit entfernt ist.

Es war Kleist, der betont hat, dass es des Streitgesprächs bedürfe, wenn Erkenntnis entstehen soll. Er forderte den diskursiven Konflikt, damit Menschen voneinander lernen können. Das Gespräch ist nahezu aus unserem Unterricht verschwunden. Kaum ein Lehrer ist noch in der Lage, über weite Strecken ein anspruchsvolles Unterrichtsgespräch zu führen. Wir verstecken uns hinter unseren Unterrichtsmethoden und weichen so personalen Begegnungen aus. PISA, Kompetenzorientierung, Methodengläubigkeit haben uns vergessen lassen, dass Unterrichten ein personales Geschehen ist, bei dem sich Menschen unmittelbar begegnen. Und das ist niemals einfach.

Man mag es mir nachsehen, aber einige Unterrichts- Methoden scheinen mir eine Weiterentwicklung der Spielekartei für Kindergärten zu sein. Das sogenannte Gruppenpuzzle – auch in der Oberstufe eingesetzt – weckt bei mir stets die Erinnerung an das geliebte Spiel „Stille Post“. Eine zu starke Betonung der Unterrichtsmethode ist nicht nur ein Zeichen eines technokratischen Verständnisses von Unterricht, sie leistet auch einer Infantilisierung des Unterrichts Vorschub, wie sie nicht ins Gymnasium gehört.

Lassen Sie mich kurz innehalten und einen bewertenden Blick auf die bisherigen Ausführungen werfen. Wir konnten zeigen, dass die OECD initiativ sowohl hinter PISA als auch hinter der Kompetenzorientierung steckt und dass ihr leitendes Interesse bei allem ein Mensch ist, der Handlungsoptionen beherrscht, die ihn zu einem funktionierenden Mitglied einer weltweiten Wirtschaft machen. Auch wenn man einen globalen Handel als einen Beitrag zum Frieden, zur Verständigung unter den Völkern wertet, was ich tue, kann der OECD-Ansatz nicht zum Erfolg führen, sondern wird er Mensch und Wirtschaft schaden. Diese These möchte ich nun begründen.

Humboldt wusste, dass Bildung als ein mit jungen Menschen und in ihnen initiierter Prozess ethisch nur vertretbar ist, wenn sie sich am Menschen selbst orientiert und ihn nicht zum Mittel eines fremden Zwecks herabwürdigt. Ihm ging es um die Entfaltung des Besten im Menschen, das sich im Griechentum gezeigt hatte und im anzustrebenden Bilde vor uns steht. Der so beschriebene Bildungsprozess konnte nur ein individueller sein, für den es Zeit, Muße und Freiheit brauchte. Die Schule und die Universität waren die Orte, an denen die Tugenden klassischer Bildung realisiert werden sollten.

  1. Ein vorläufiges Fazit:

Als wir uns auf das Bildungsverständnis der OECD einließen, haben wir den Weg Humboldts verlassen. Was ist an seine Stelle getreten? Präziser gefragt: Wenn wir Humboldts bildungstheoretische Grundlagen in einer humanistischen Anthropologie verorteten, entsteht die Frage, welches Menschenbild hinter der aktuellen Bildungspolitik steckt. Ich will es im Rahmen eines Zwischenfazits versuchen zu umschreiben.

  1. Die Wurzeln der Veränderung unseres Bildungssystems reichen bis in die Anfangsjahre der OECD. Es konnte gezeigt werden, dass am Beginn die Idee eines international einheitlichen Bildungsstandards stand, der maßgeblich dazu beitragen sollte, Industrie und Handel zu fördern. Dass Bildung Wirtschaft und Handel fördert und damit einen Beitrag zur Friedenssicherung leistet, ist zweifellos richtig. Dass aber der Bildungsprozess wirtschaftlichen Gesichtspunkten untergeordnet wird, dass nicht mehr der an der Vorstellung eines idealen Menschsein sich Bildende, sondern der „homo oeconomicus“ das Ziel der Bildung ist, zerstört ihr Anliegen nachhaltig und verlegt das Ende der Kindheit in die vierte Klasse. Frank Schirrmacher, der leider früh verstorbene Herausgeber der FAZ, bringt auf den Punkt, was hier geschehen ist: „Ohne dass wir es gemerkt haben, haben Ökonomen den Seelenhaushalt des modernen Menschen zu ihrer Sache gemacht“ (München 2013. S.9). Begonnen haben sie mit ihrer Eroberung der Seelen bei den Schwächsten, nämlich den jungen Menschen, in deren Bildungsprozesse sie in einer Tiefe eingegriffen haben, die historisch einmalig ist. Die Schulzeitverkürzung am Gymnasium von neun auch acht Jahre ist das unmittelbare Ergebnis wirtschaftlicher Interessen. Ein enormes Tempo, Trainingsprogramme in Form von „individueller Förderung“ und ein gänzlich unphilosophischer Pragmatismus prägen den Alltag des Gymnasiums. Es gibt keinen Raum mehr für Muße, sondern nur Wechselzeiten, um von einem Förderprogramm ins andere zu springen.

Nicht mehr die Anthropologie ist die Partnerwissenschaft der Schulpädagogik, sondern die Ökonomie.

  1. Humboldt verlangte um des jungen Menschen willen für seine Bildung Freiheit, Muße und Zeit. Dass Muße und Zeit auf der Strecke blieben, wurde schon deutlich. Dass wir auch dabei sind, die Freiheit zu verlieren, zeigt die Kompetenzorientierung. Kompetenzen zielen auf eine bestimmte Art zu handeln ab. Während eine Inhaltsorientierung die Freiheit des Handelns unberührt ließ und sie in die Verantwortung des gebildeten Menschen legte, wird uns heute von Statistikern vorgegeben, welche Handlungskompetenzen relevant sind. Ein ausgeklügelter und fast schon esoterischer Zusammenhang von Kompetenz-Festlegung, Kompetenz-Messung, Kompetenz-Auswertung und korrigierenden Eingriffen in das Schulsystem bildet den typischen Messzyklus für Schulen. Mit anderen Worten: Wir gestalten Bildungsprozesse analog zu Fertigungsprozessen von Waschmaschinen. Über allem steht das Diktum der Effektivitätssteigerung und mit ihm das der Messbarkeit. Beide wirken zurück auf die Kompetenz-Festlegung. Die Inhaltsdimension wird diesen Wechselwirkungen untergeordnet. Wählbar ist, was Kompetenzen trainiert. Die Freiheit der Bildung findet dort ihre Grenze, wo sie leistet, was nicht mehr messbar ist, und das ist nach Humboldt das Wesentliche.

  2. Wenn wir auf die Bedeutung der Methode für das Lehren und Lernen schauen, die ihr heute beigemessen wird, dann rundet sich das gezeichnete Bild ab. Mit der Ökonomisierung der Bildung sehr eng zusammen hängt, wie wir sahen, das Kriterium der Messbarkeit als Maßstab für Bildungsprozesse. Wenn wir davon ausgehen, dass die Bildung junger Menschen steuerbar ist, wie ein wirtschaftlicher Fertigungsprozess, dann erklärt sich die aktuelle Methodenverliebtheit von selbst. Sie fügt sich hervorragend in ein technokratisches Menschenbild, das seine Befürworter glauben lässt, der Mensch werde gebildet, wenn er bestimmte schulische Programme, die ihrerseits spezifische Methoden anwenden, durchlaufe. Richtig daran ist, dass ausgeklügelte Methoden in der Tat mehr mit jungen Menschen „machen“ als beispielsweise die einfache Textlektüre. Sie nehmen ihn mit in einen dynamischen Prozess, den er weder selbst gewählt hat noch selbst überblickt. Selbstverständlich gilt das nicht für jede Methode, aber es ist eine Gefahr, die der Methode inhärent ist, und sie wird virulent, wenn die Methode in die Hände eines Bildungstechnokraten gerät.

Das Gymnasium ist zu einem Bildungsunternehmen mit einer enormen Effektivitätssteigerung in den letzten zwanzig Jahren geworden. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass das moderne Schulsystem im Dienste einer Menschen-Optimierung steht, die viel zu abgebrüht ist, um noch menschliche Ideale für erstrebenswert zu halten. Unsere jungen Menschen geraten ab Klasse fünf in den Sog einer Wirtschaftsorientierung, die an die Stelle der alten Ausgewogenheit getreten ist. Wer wollte da noch behaupten, dass das alte Gymnasium Humboldtscher Prägung noch lebe?

  1. Inklusives Lernen

Wenn wir uns nun der Inklusion zuwenden und nach ihrem Beitrag zum Exitus des Gymnasiums fragen, dann werden wir die Prämisse für unsere Kritik ändern müssen. Wo uns bisher Humboldts Bildungsideale die Basis für eine negative Kritik vor allem des Menschenbildes der aktuellen Bildungspolitik lieferte, verhält es sich im Blick auf das Thema der Inklusion geradezu umgekehrt. Denn Humboldts Ideale verhalten sich zur Inklusion durchaus affirmativ. Man kann sie mit einigem Recht sogar als eine Weiterentwicklung Humboldtscher Reformideen bezeichnen.

Im Folgenden werde ich diese These begründen, um danach doch noch zu zeigen, dass aktuelle theoretische und praktische Ansätze der Inklusion das Gymnasium zerreißen werden.

Gerne wirft man Kritikern am Bildungssystem, die sich auf Humboldt beziehen, einen elitären Ansatz vor, der nicht mehr zeitgemäß sei. Ich halte das für falsch. Entsteht tatsächlich der Eindruck des Elitären, ist er entweder ein unbegründeter Reflex auf die Namensnennung unseres Bildungsreformers, oder der ihn als Gewährsmann Anrufende hat Humboldt verkürzt dargestellt.

Humboldt wünschte eine Schule für alle. Wäre der Begriff zurzeit nicht so belastet, würde man sagen, dass die Einheitsschule sein Ziel war. Mit dieser Forderung wurde er zum radikalen Bildungsreformer, der von den Spezialschulen seiner Zeit für die Zöglinge des Adels und der Kirchen weg wollte. Seine Bildungsreform war ein kaum zu überschätzender Beitrag für die Demokratisierung des Schulsystems Anfang des 19. Jahrhunderts. Zumindest Humboldts Ansatz war alles andere als elitär.

Sein Bildungssystem sollte dreifach gegliedert sein und sich nicht durch irgendeine Form der Spezialisierung, sondern durch die Dauer des Schulbesuchs unterscheiden. Humboldt differenzierte in Elementarschule, Gelehrtenschule und Universität. Sie sollten aufeinander aufbauen und zugleich jede für sich einen in sich stimmigen Bildungsgang vermitteln. Jede Schulform hatte auf ihre je eigene Weise die oben genannten Bildungsideale zu realisieren, sich aber keinesfalls auf zum Beispiel bäuerliche Inhalte für die Landbevölkerung zu spezialisieren. Sie sollte allgemein bilden, das heißt, sowohl den Charakter als auch die Kognition junger Menschen entwickeln, und zwar an mit großer Sorgfalt auszuwählenden Inhalten. Wie ernst Humboldt es mit der Schule für alle meinte, verdeutlicht er mit seinem schon fast programmatischen Satz:

Auch Griechisch gelernt zu haben könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unnütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten.“9 (Wilhelm von Humboldt: Der Litauische Schulplan. In: Ders.: Bildung und Sprache. 5. durchges. Aufl. Paderborn 1997. S. 113.)

Das hat nun wirklich nichts mit einem elitären Bildungsansatz zu tun, sondern viel mehr mit einem radikaldemokratischen, der zu Humboldts Zeit geradezu revolutionär war.

Humboldt wusste übrigens, dass die von ihm geforderten Schulen unbedingt gut sein mussten. Denn nur so hatten sie die Chance, das überkommene Schulsystem mit seinen Adelsschulen abzulösen.

Eine dreifach nach dem Alter und der Begabung gegliederte gute Schule für alle sollte an die Stelle des elitären und zersplitterten Schulsystems seiner Zeit treten. Was meint hier Schule für alle, wenn sie doch zugleich dreifach gegliedert sein sollte? Selbstverständlich wusste Humboldt um Begabungsunterschiede, die eine differenzierte Ansprache von Schülerinnen und Schülern bedingte. Mit Einheitsschule war gemeint, dass es eine Schule sein sollte, die zunächst für jeden offen war. Eine auf allen Ebenen offene und vorzügliche Bildungsanstalt sollte sich der Menschenbildung ohne Ansehen von Person, Stand und Geschlecht widmen. Dass dann zu differenzieren war zwischen denen, die länger die Elementarschulen oder aufbauend auf eine kurze Grundbildung die Gelehrtenschulen besuchten, das lag für Humboldt auf der Hand. Zwar sollte der Tischler sich mit den Griechen und der kleine Professor mit dem Schreinern beschäftigen, aber nur so weit, wie es ihnen im Rahmen eines allgemeinen Bildungsangebots möglich war. Einheitsschule bedeutete nicht, dass es keine differenzierten Bildungsgänge gab, sondern dass alle ohne Ansehen der Person eine Bildung bekommen, die sie zu ausgewogenen Persönlichkeiten formte. Die Frage, ob jemand Tischler oder Gelehrter werden sollte, stellte sich für Humboldt erst gar nicht. Im Gegenteil: Diese Fragen an sein allgemeinbildendes Schulsystem gestellt, machten ihn gereizt. Dies war übrigens auch der Grund für seine sehr reservierte Haltung den Realschulen seiner Zeit gegenüber. Denn sie befassten sich viel zu früh mit beruflichen Inhalten, die unbedingt erst auf die Allgemeinbildung zu folgen hatten.

Vor dem Hintergrund, dass Humboldts Ideen bis heute als radikaldemokratisch und reformerisch zu beurteilen sind, wird man verstehen, dass sie den Gedanken einer inklusiven Beschulung nicht ausschließen. Er fügt sich zudem in ein humanistisches Ideal, das den Wert eines Menschen weder von seinem Stand noch von seiner intellektuellen Leistungsfähigkeit abhängig macht. Insofern bewegen wir uns im Kontext einer humanistischen Bildung, wenn wir Menschen mit Behinderungen nicht bloß integrieren, sondern inkludieren und damit meinen, dass sie ganz selbstverständlich überall, folglich auch in der Bildung, ohne Einschränkung dazu gehören.

Und dennoch läuft etwas schief mit der Inklusion in unserem Lande. Denn sie ist Kristallisationspunkt für sozialschwärmerische Ideen, für Ideologiesierungstendenzen, die einen humanistischen Ansatz von den Füßen auf den Kopf stellen.

Ines Boban schreibt „Diesen Personen (= Behinderten), die je Individuen sind, deren Beiträge zur Welt immer einmalig sind, will pluralistisches Lernen Rechnung tragen. Wie kann das gehen – zumal angesichts des Startpunkts bisheriger Traditionen? Was gilt es zu ändern? Wie schon Vernor Munosz sagte – relativ wenig: (nämlich) Alles! Die Aufgabe ist groß und bewältigbar – gemeinsam Schritt für Schritt. ‚Because we can change the world‘“ (S.15).

Lassen Sie mich auf zwei Aspekte aus diesem Zitat eingehen. Da ist zunächst die Rede von pluralistischem Lernen. Es ist dies die Form individuellen Lernens, die sich notwendig aus einem streng inklusiven Unterrichtskonzept ergibt. Dabei geht man von einer maximal heterogenen Lerngruppe aus. Denn in ihr befinden sich sowohl Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen als auch normal bis hochbegabte Schüler/Innen. Für den lupenreinen Inklusionstheoretiker ist schon diese Differenzierung suspekt. Er würde schlicht von „Vielfalt“ sprechen, die sich wie im übrigen Leben so auch in jeder beliebigen Lerngruppe wiederzufinden habe.

In einer wie hier beschriebenen äußerst heterogenen Lerngruppe kann es nur ein „pluralistisches Lernen“ geben, das jedem Kind sowohl seinen individuellen Lernweg als auch seinen individuellen Lernstand zubilligt. Boban: „Der erste Schritt zum pluralistischen Lernen ist also, den starren Blick auf den geforderten einheitlichen Lernstand abzulegen und jeden einzelnen Schüler und seine Beiträge zum gemeinsamen Lernen wertzuschätzen. (…) Auch hier gilt der Grundsatz: Jeder Beitrag, und sei er noch so kritisch, hat seinen Wert“ (17).

Zu fragen wäre hier, worin das gemeinsame Lernen besteht, wenn der Lernbehinderte unter Einhilfe den Zahlenraum bis 100 bearbeitet, der geistig Behinderte die Auge-Hand-Koordination trainiert, die kluge Schülerin Latein lernt und der Hochbegabte sich mit der Vermehrung von Krebszellen beschäftigt. Pluralistisches Lernen im Rahmen von Inklusion ist eben kein gemeinsames Lernen an einem allen gemeinsamen Gegenstand. Es verdient nur insofern die Bezeichnung „gemeinsam“, als es sich um ein Tun zur selben Zeit im selben Raum handelt. Und stellen wir uns vor, dass es in der Tat um eine maximal heterogene Gruppe geht, in der die einzige Gemeinsamkeit darin besteht, zur Gattung Mensch zu gehören, dann schlägt Gemeinsamkeit in Einsamkeit um. Wohl gemerkt: Wir reden von Unterricht und nicht von einer Sommerfrische der Caritas unter inklusiven Bedingungen.

Werfen wir noch einen Blick auf die Rolle des Lehrers. Zwei Lösungsmodelle sind denkbar: 1. Ein buntes Expertenteam aus Sozialpädagogen, Sonderschullehrern, Sek.I- und Sek.II-Lehrern betreut eine ebenso bunte Schülergruppe. Der Lehrer, vielleicht zuständig für ein bis fünf Kinder, kann nur face to face unterrichten. Er hat sich ja von der Idee eines relativ einheitlichen Lernstands verabschiedet. Unterrichtsgespräche über Fachinhalte kann es nur noch sehr begrenzt geben. 2. Der Einheitslehrer und multiple Pädagoge, ausgebildet für eine heterogene Schülerschaft, nicht aber für den vertiefenden Unterricht in einem Lehrfach. Er wird unterstützt von einer Sozialpädagogin. Die Fachlichkeit ist hier noch weiter zurückgedrängt. Auch der Einheitslehrer wird seine Arbeit nur im Rahmen einer Einzelbetreuung leisten können.

Gemeinsam ist beiden Modellen, dass die Rolle des Lehrers sich vom fachwissenschaftlich gut ausgebildeten Bildungspartner junger Menschen hin zum Moderator von Lernprozessen ohne fachwissenschaftliche Tiefe, dafür aber mit breitem pädagogisch-psychologischen Halbwissen verändern wird.

Gemeinsam ist beiden Modellen und jeder weiteren Konzeption von inklusivem Lernen, dass die Größe der Lerngruppen deutlich unter den aktuellen Nennwerten liegen muss, wenn Schülerbetreuung nicht bedeuten soll, dass jedes Kind seinen Text, seine Zahlen oder Bausteine erhält, an denen es sich abzuarbeiten hat. Je schlechter der Betreuungsschlüssel in einer inklusiven Lerngruppe, um so mehr wird Lernen hier zur einsamen Begegnung zwischen dem Schüler und seinem individuellen Arbeitsblatt.

Gemeinsam ist allen Formen inklusiven Lernens eine sofortige oder sukzessive Aufhebung der klassischen Definition von Unterricht als einem gruppenbezogenen Lernprozess meistens junger Menschen unter sach- und menschenkundlicher Anleitung eines älteren Menschen. Und mit der Erledigung der alten Definition von Unterricht erledigen sich auch die von Schule und Lehrer.

Eines wird hier sehr deutlich: Eine Schule lässt sich nur begrenzt reformieren, wenn man das Grundverständnis von einem Ort gruppenbezogener Bildungsprozesse akzeptiert. Sollte nur dieser Grundpfeiler von Schule in Frage gestellt werden, kann man nicht mehr von einem Reformansatz sprechen, sondern muss ehrlicherweise von einer Erledigung von Schule reden, von ihrem Tode.

Zum zweiten Aspekt in unserem oberen Zitat, zu der Überzeugung „Because we can change the world“. Dieser Satz verrät das eigentliche Anliegen vieler Inklusionstheoretiker. Sie alle wissen und betonen, dass weder unsere gesellschaftliche noch unsere schulische Wirklichkeit mit ihren Ideen kompatibel sind. Gleichwohl fordern sie ihre Umsetzung in den Schulen, weil sie hoffen, dass man bei den Kleinsten und Schwächsten einer Gesellschaft ansetzend diese am effektivsten verändern kann. Schüler werden zu Instrumenten gesellschaftlicher Veränderung, Schulen zu den Orten, an denen sie sich konzentriert und vollzieht.

Wenn wir oben festgestellt haben, dass unser Schulsystem an einer Ökonomisierung der Bildung krankt und damit den Menschen zum Mittel für einen ihm fremden Zweck macht, so werden wir im Hinblick auf Tendenzen der Inklusionspädagogik das selbe feststellen müssen. Auch unsere Inklusionisten haben die aus dem Blick verloren, um die es ihnen gehen sollte: junge Menschen auf ihrem Weg zu einer ausgewogenen Persönlichkeit. Unter ihren Händen sind sie zu Probanden eines großen pädagogischen Experiments geworden, das den neuen Menschen schaffen soll, dessen Ausgang jedoch in Wahrheit mindestens ungewiss ist. Die Idee eines radikal inklusiven Schulsystems setzt Menschen und Verhältnisse voraus, die es nicht gibt und ist insofern eine Utopie.

Unmerklich hat sich im Kontext der Inklusionsdebatte eine Akzentverschiebung von Lerninhalten hin zum Sozial- und Kompetenzverhalten, eben zu einem rechten Verhalten hin ergeben. Schulen sind zu Trainingsstätten geworden und auf dem besten Wege, an die Stelle der Menschenbildung eine Form von Verhaltenstherapie zu setzen. Es werden – durchaus auf hohem Niveau – äußere Verhaltensweisen trainiert, die man für Schlüsselverhalten in unserer Industrie-Gesellschaft hält. Doch ist eines gewiss: Mit den Inhalten verlieren wir zwangsläufig die Basis für Bildung verstanden als Menschenbildung.

Betonen wir dagegen die Inhaltsdimension von Unterricht und halten zugleich die „Ein eigener Text für jeden Schüler-Lösung“ für unbefriedigend, benötigen wir leistungshomogene Lerngruppen. Und je komplexer ein Inhalt ist, umso homogener muss eine Lerngruppe sein. Wir werden zurzeit darauf getrimmt, die Heterogenität einer Lerngruppe für eine pädagogische Tugend zu halten. In Wahrheit bedeutet aber jede Einschränkung der Homogenität eine Einschränkung der Inhaltlichkeit von Unterricht.

Übrigens führt die wachsende Heterogenität in unseren Schulen bei einer Zurückdrängung des Inhalts nicht automatisch zu einer Verstärkung des sozialen Lernens. Oft genug ist das Gegenteil der Fall, nämlich immer dann, wenn inklusiv arbeitende Schulen nicht den Mut haben, die Inklusion aufzuheben, wenn ein gemeinsames Arbeiten an einem allen gemeinsamen Inhalt nicht möglich ist. Zwinge ich ein Kind mit Downsyndrom, am Lateinunterricht einer Sieben teilzunehmen, werden weder dieses Kind noch die Lerngruppe an der gegebenen sozialen Herausforderung wachsen, selbst dann nicht, wenn wir das Kind mit Downsyndrom ein Bild von Cäsar malen lassen.

  1. Berufsorientierung im Gymnasium

Wenden wir uns einem letzten Aspekt der aktuellen Schulpolitik zu, der Berufsorientierung. Die allgemeinbildenden Schulen haben seit einiger Zeit die Aufgabe, allen Schülern ab der 8. Klasse bis zur Q2 eine regelmäßige und lückenlose Berufs- und Studienberatung angedeihen zu lassen. Ich zitiere: „Alle Fächer leisten ab der Sek.I (…) ihren Beitrag zu einem systematischen Prozess der Berufs- und Studienorientierung. Die fächerübergreifende Koordination wird durch die Verankerung in einem schulinternen Curriculum zur Berufs- und Studienorientierung sichergestellt.“ – An außerschulischen Lernorten, vor allem in Betrieben, sollen Praxiserfahrungen gesammelt werden (S.11), und zwar spätestens ab Klasse 8.

Ich zitiere aus dem neuesten Erlass vom 7.9.2016: „Der Ausbildungskonsens NRW hat im November 2011 die flächendeckende Einführung einer nachhaltigen, geschlechtersensiblen, migrationssensiblen, inklusiven und systematischen Berufs- und Studienorientierung beschlossen, (…). Dazu sind 18 Standardelemente entwickelt worden, (….).“ Mal im Ernst: So viel Sensibilität lässt mich hoffen, das Reich Gottes sei endlich angebrochen….

Ein segensreicher verpflichtender Baustein im Rahmen unserer Berufsorientierung soll die sogenannte Potenzialanalyse für die Schülerinnen und Schüler des 9. Jahrgangs sein. Auf sie werden wir noch zu sprechen kommen.

Zweifelten wir noch an der These, dass unser aus den Ideen Humboldts erwachsenes Schulsystem einer beispiellosen Ökonomisierung zum Opfer fiel, so haben wir hier den Beweis. Die Ökonomen und Statistiker, Wirtschaftspädagogen und Wirtschaftspsychologen, die Technokraten, die Coachingliebhaber und Mess-Techniker haben mit diesem Erlass vollständig ihre Deckung aufgegeben und ein Hohngelächter gegen die letzten Humboldt-Freunde angestimmt.

Am 9.9.2016 konnte man in der NRZ zum Erlass über die Berufsorientierung an allgemeinbildenden Schulen lesen: „NRW bietet mit diesem Schuljahr Jugendlichen in allen 53 kreisfreien Städten und Landkreisen Informationen für einen reibungslosen Übergang von der Schule in den Beruf oder ins Studium an. (…) In den 8. Jahrgangsstufen werden inzwischen 175000 Schüler erreicht, und zwar in allen allgemeinbildenden Schulen. Bis 2019 soll diese Zahl bis auf 500000 wachsen, (…). Ministerpräsidenten Hannelore Kraft (SPD) sprach von einem Systemwechsel, der auf Dauer angelegt sei. Alle Schüler ab der Jahrgangsstufe 8 und der Sek.II sollen in diverse Berufe ‚hineinschnuppern‘ und mehrere Praktika absolvieren können.“

Berufsorientierung“ – welch ein Wohlklang in den großen Ohren der Ökonomen, und welch eine Freude auf den Fluren all der Coaching- und Beratungsinstitute, denen neue Betätigungsfelder zuwachsen, und die derzeit wie Pilze aus dem Herbstboden schießen, weil es sichere staatliche Gelder zu verdienen gibt.

Was meint eigentlich Berufsorientierung im schulischen Alltag? Einfacher ist es, damit zu beginnen, was sie nicht meint.

Sie meint keine Berufsausbildung. Kein Gymnasiast wird lernen, einen Tisch zu schreinern, Schuhe zu reparieren, einen Opel tiefer zu legen oder eine Modefrisur zu kreieren. Damit zielt Berufsorientierung auch nicht auf eine Aneignung von Welt. – Sie meint lediglich ein Hineinschnuppern in die Welt der Berufe.

Sie meint auch nicht, die Arbeitswelt mit ihren ganz eigenen Gesetzen der Macht, der Hierarchien, der Karriereplanung, den Gesetzen der Ökonomie und des Rechts, des Verdienstes und der Rentenansprüche verstehen zu wollen oder auch nur zu können. Berufsorientierung meint nur ein Hineinschnuppern.

Sie meint auch nicht, einen Beitrag zur Ausbildung eines Rückgrats liefern zu können, das man braucht, wenn der Manager verlangt, man solle eine Manipulationssoftware entwickeln, aber niemandem davon erzählen. – Gemeint ist schließlich nur ein Hineinschnuppern in eine Wirtschaftswelt, und zwar deutlich unterhalb des Managements.

Berufsorientierung kann auch nicht meinen, Geduld und Ausdauer zu schulen, die zwingend für jeden Beruf sind. Dafür ist sie zu kurz, zu oberflächlich und zu episodenhaft. – Gemeint ist lediglich ein „Hineinschnuppern“.

Berufsorientierung meint auch keine Vertiefung mathematischer oder naturwissenschaftlicher Kenntnisse, die aber für jeden Ingenieurberuf unerlässlich sind. Hineinschnuppern – mehr will sie nicht.

Die Berufsorientierung in allgemeinbildenden Schulen liefert auch keinen Beitrag zur Ausbildung eines anspruchsvollen Sozialverhaltens. Sie bildet nicht die Fähigkeit aus, 20 Jahre neben einem notorischen Nörgler die Rentenansprüche zu prüfen oder Krankenkassenbeiträge zu erhöhen. Es geht ihr nur um ein „Hineinschnuppern“.

Mein Fazit: Gemessen am Standard des Humboldt und der allgemeinen Vernunft leistet Berufsorientierung am Gymnasium gar nichts. Sie ist eine Alibi-Veranstaltung, die berufliche Realitäten dadurch verzerrt, dass sie Schaufenstereffekte erzeugt. Sie lässt dort schnuppern, wo man junge Mädchen und Jungen begeistern kann und verschweigt schlicht alles, was man außer der Freude an Verdienstmöglichkeiten und an Kreativität sonst noch so in der Berufswelt benötigt.

Berufsorientierung an allgemeinbildenden Schulen ist nichts als eine Form der Desorientierung, die sowohl die allgemeine Bildung junger Menschen erschwert als auch jedes tiefere Verständnis von der Berufs- und Arbeitswelt.

Erinnern wir uns an Humboldts Bildungsideen, von denen eine lautete, dass wir mit einer zu früh einsetzenden beruflichen Bildung und erst recht mit einer Vermischung allgemeinbildender und berufsbildender Inhalte beides verlieren, die Menschenbildung und mit ihr die elementare Voraussetzung für jede Berufsausübung, die darin besteht, eine ausgewogene Persönlichkeit mit einem zutiefst humanen Verständnis von Welt und Mensch zu sein.

Es ist unserer Wirtschaft nicht damit gedient, wenn Menschen die Schulen verlassen, die ein wirtschaftskompatibles Verhalten trainiert, die überall hineingeschnuppert haben, ein unverankertes und unvernetztes Wissen besitzen und weder die ethische Überzeugung noch das Rückgrat dafür mitbringen, einen riesigen Softwarebetrug als Betrug zu bezeichnen und anzuprangern. Eine Berufsorientierung ab dem fünften Jahrgang auf Kosten allgemeinbildender Inhalte verzögert und erschwert die Bildung zum Menschen. Sie ist nicht nur lästig, weil sie Zeit und Organisationskraft verschlingt, sie ist vor allem weder dem Menschen noch der Wirtschaft nützlich.

Eine besondere Perle der Berufsorientierung ist die Potenzialanalyse, die ein uns verordneter Baustein der Berufsorientierung im 9. Jahrgang ist. Auch dieses schöne Wort bedient alle Klischees moderner Begriffsbildung in der Schulpädagogik. Es suggeriert Professionalität, Messbarkeit und ein schmerzfreies Ergebnis, geht es doch um Potenziale und nicht um ausreichende oder mangelhafte Leistungen.

Potenzialanalyse (von lat. potentia = Stärke, Macht und Analyse) bezeichnet die strukturierte Untersuchung des Vorhandenseins bestimmter Eigenschaften (Fähigkeiten). Potenzialanalysen liefern strukturierte Informationen zu Fragen nach der Fähigkeit von Mitarbeitern, Ereignissen, Mitteln und Organisationen. (In: Wikipedia).“

Die Definition zeigt, dass unser Begriff aus der Wirtschaftswelt stammt. Wie sollte es auch anders sein? Die in der Wirtschaft schon länger angewandten Verfahren wurden den Belangen einer Untersuchung junger Menschen angepasst und den Schulen als Zwangsbaustein verordnet.

Im Vergleich zu dem, was eine Potenzialanalyse zu leisten verheißt, sind ein Zeugnis, eine Lehrerberatung, unser AG-Programm, Förderangebote eine bemitleidenswerte Laiendarstellung. Während wir seit Jahrhunderten mit unseren Unterrichtsfächern und einer mittelalterlichen Zensurengebungspraxis dilettieren, kommt uns die Potenzialanalyse ins Haus, die unsere Schüler aus ihren humboldtschen Bildungsprozessen befreit und sie in zwei Stunden mit ihrer Potenzial-Fülle bekannt macht. Erst dann werden sie wissen, welche Möglichkeiten in ihnen schlummern, unseren Bildungsbemühungen zum Trotz. Und wir werden bei Vorlage ihrer Analyseergebnisse erschauern vor so viel Potenzial, das wir unentdeckt ließen.

Wir werden uns zu schämen haben, wenn die mit der Potenzialanalyse betrauten Institute ihre Ergebnisse an die Ministerin melden. Und es wird niemandem auffallen, dass die Potenzialanalysen einem Zirkelschluss folgen, der beweist, was vorausgesetzt wurde.

Potenzialanalysen, von semiprofessionellen Coaches ausgeführt, erklären allen Bildungsbemühungen des Gymnasiums den Bankrott. Man wird argumentieren, dass man uns nicht ins Unterrichtshandwerk pfuschen, sondern im Namen des Schülers eine ergänzende Perspektive bieten wolle. Das halte ich allerdings für eine Übertreibung. Denn jede inhaltsfreie Begabungsanalyse ist ein realitätsfernes Konstrukt, das ebenso bedeutungsleer wie ein Intelligenztest ist.

Im Unterschied zum Intelligenztest, der in Grenzbereichen Wesentliches beitragen kann, liefert eine Potenzialanalyse nichts, was ein Bildungsprozess nicht auch und auf Grund seiner Rahmenfaktoren deutlich besser leisten kann als die Potenzialanalyse. Man braucht schon ein hohes Maß an Irrationalität, wenn man diesen Analysen mehr zutrauen soll als manchen höchst vergnüglichen Gesellschaftsspielen und dem Horoskop.

  1. Ausblick:

Viele Jahre dieser hier beschriebenen Entwicklungen in unserem Bildungssystem sind ins Land gegangen, ohne dass sich nennenswerter Widerstand geregt hätte. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Inzwischen gibt es eine lange Reihe von Wissenschaftlern (siehe die „Gesellschaft für Bildung und Wissen“), die sich sehr kritisch mit PISA, Kompetenzorientierung, Methodenwahn und einer allzu frühen Berufsorientierung auseinandersetzen.

Ich kann nicht abschätzen, wohin uns die Bildungspolitik noch führen wird. Und ich halte es für falsch, unser Unbehagen in die Klassenräume oder Konferenzen zu tragen. Wir werden im Rahmen der aktuellen Möglichkeiten unser Bestes für die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen geben müssen.

Aber wir sollten mit einem wachen, ideologiefreien Blick und mit viel Herz für unsere Schüler den Gestaltungsspielraum nutzen, der uns bleibt.

Die folgenden Überlegungen zu dem, was Schule ausmacht, sind systemkompatibel. Sie lassen sich von jedem Standort der Entwicklung aus erinnern, umsetzen, hinterfragen oder ablehnen. Sie sind nicht neu, in meinen Augen aber wichtig:

  1. Eine Schule ist angesiedelt zwischen Elternhaus und Beruf. Sie ist nicht mehr Familie und noch nicht Beruf. Sie ist ein Ort der Bildung junger Menschen, die auf dem Wege sind. Deshalb ist in ihr eine ausgesprochen hohe Fehlertoleranz gegenüber den Schülern institutionalisiert. Das unterscheidet sie vom Beruf.

  2. Die Stellung der Schule zwischen Elternhaus und Beruf bedingt eine Pädagogik zwischen Annahme und Anspruch. Damit ist auch gesagt, dass es in ihr selbstverständlich um Leistung und Leistungsbewertung geht, deren Kontext allerdings eine leistungsunabhängige Annahme jedes Schülers bildet. Ein hoher Leistungsanspruch der Schule unterscheidet sie von der Familie.

  3. Schulen sind Orte der Vorbereitung, keine Trainingscenter, keine Kaderschmieden. Sie bringen zur Entfaltung. Sie professionalisieren und spezialisieren nicht.

  4. Schule ist auf Grund ihres Auftrags, einer Einführung junger Menschen in die Kultur, immer rückwärtsgewandt. Sie hat eine bewahrende Funktion. Sie fordert nicht zur Neu- und Umgestaltung von Mensch und Welt auf, sondern erinnert in aller Demut daran, dass wir als Zwerge auf dem Rücken von Riesen stehen. Damit ist sie zwar nicht modern, bereitet aber auf Neues, auf Zukünftiges vor.

  5. Die Schule ist ein Ort des Wissens, seiner Weitergabe und seiner Anwendung. Deshalb ist sie auch ein Ort des Verstehens. Sie wird zum Ort der Bildung, wenn Wissen und Verstehen junge Menschen verändern.

  6. Verstehen ereignet sich grundsätzlich im Dialog. Deshalb gilt es, das Gespräch / Streitgespräch als zentrales Medium des Unterrichts wiederzuentdecken.

  7. Eine Schule ist ein Ort gemeinsamen, nicht einsamen Lernens, sofern Lernen sich auf Gegenstände / Inhalte außerhalb von mir selbst bezieht. Soll Lernen die Bezeichnung „gemeinsames Lernen“ verdienen und nicht bloß denselben Aufenthaltsort von Schülern meinen, dann benötigt es einen ähnlichen Verstehenshorizont der Lernenden. Die Homogenität einer Lerngruppe ist ein Anspruch, der sachlogisch zwingend und nicht politisch unkorrekt ist.

  8. Den Anspruch der Inklusion kann eine weiterführende Schule nur erfüllen, wenn sie ihn, ausgehend vom Kind, relativiert oder aufhebt.

  9. Die Begeisterung eines Lehrers von seinem Fach und die Begeisterungsfähigkeit des Schülers verbindet beide. Beide sind nicht wissenschaftlich erfass- und evaluierbar, aber von tragender Bedeutung.

Zur Titelfrage: Das Humboldtsche Gymnasium liegt in seinen letzten Zügen und ächzt unter den Hieben der Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte. Stirbt es, wird eine andere Schulform seine Aufgabe der Bildung junger leistungsstarker, studierfähiger Menschen übernehmen müssen. Denn solche Menschen gibt es. Die Schulform, die dann entsteht, könnte man ja Gymnasium nennen…