Durch ihren Vortrag wurden die SchülerInnen zu “Zweitzeugen”.

In der Aula am GV herrscht am Vormittag des 31.8. eine rege Geräuschkulisse. Etwa 200 Schülerinnen und Schüler der Oberstufe warten auf die Zeitzeugin Sara Atzmon. Aufgrund des Verkehrs verspätet sie sich leider ein wenig. Aber als sie in den Raum kommt, herrscht sofort Stille. Alle schauen gebannt nach vorn, als die 89-Jährige die Bühne betritt. Begleitet wird Atzmon von ihrem Mann Uri und dreien ihrer Enkelkinder.

Die Holocaust-Überlebende Sara Atzmon spracht mit unseren Schülerinnen und Schülern über ihre Vergangenheit im Nationalsozialismus. Als Kind einer jüdisch-orthodoxen Großfamilie überlebte sie Deportationen, Zwangsarbeit, Ghetto und Konzentrationslager. Durch das NS-Regime verlor sie unzählige Familienangehörige. Seit ungefähr zwei Jahrzehnten berichtet sie von ihrem Schicksal und den Gräueltaten der Nazis, um nachfolgende Generationen darauf aufmerksam zu machen, bei Unrecht nicht wegzusehen und Hass nicht entstehen zu lassen.

Überraschend hält Sara Atzmon ein DIN A4 großes Porträt eines bärtigen Mannes hoch. Sie fragt in die Menge: „Habt ihr schon einmal einen solchen Mann auf der Straße gesehen?“ und antwortet darauf selbst: „Das ist ein orthodoxer Jude. So ungefähr, mit diesem langen Bart, sah auch mein Vater aus.“ Sie berichtet davon, wie die Nazis ihrem Vater den Bart abrasierten, um ihn zu demütigen: „Ihr könnt es euch so vorstellen – es war für ihn so, als müsse er ab sofort nackt durch die Straßen laufen.“

„Wie viele Leute sind heute hier?“, fragt Atzmon als Nächstes. Etwa 200, antwortet Lehrer Pascal Druschke, der die Veranstaltung am GV organisiert hat. Daraufhin deutet die Zeitzeugin ins Publikum: „Zehn Tage lang waren wir alle in einen dunklen Waggon gepresst, der nicht mal halb so groß war wie der Raum hier.“ Bei dieser anschaulichen Beschreibung ihrer ersten Deportation ins Vernichtungslager Auschwitz schauen sich die Jugendlichen in der Aula besorgt um. Sara Atzmon berichtet weiter, dass sie alle gemeinsam nur zwei Eimer hatten – einen zum Trinken und einen als Toilette, dass viele der Inhaftierten die Fahrt nicht überlebten und dass dort überall Leichen im Wagen lagen. Doch Sara und ihre Familie hatten Glück im Unglück. Auschwitz sei überfüllt gewesen, erzählt sie, daraufhin habe der Zug umgedreht und sie alle zurück nach Österreich ins Ghetto von Gmünd gebracht.

Durch die dort stattgefundene Selektion der Nazis wurde entschieden, wer in die Zwangsarbeit geschickt wurde und wer letztlich doch nach Auschwitz kam. „Ein einfacher Stempel an deinem Handgelenk hat über Leben und Tod entschieden“, sagt sie ungläubig und schaut symbolisch auf ihr Handgelenk, „meine Familie und ich bekamen ‚GD‘, wir durften weiterleben. Wer aber alt war, schwach oder ein Kleinkind, der bekam ein ‚X‘ und wurde zum Sterben nach Auschwitz gebracht.“

Ihr Vater starb bei der Zwangsarbeit, als sie elf Jahre alt war und sie habe es mit angesehen, erzählt die Zeitzeugin mit belegter Stimme: „Er war so schwach – das war am 11. August 1944.“ Die Stille in der Aula ist drückend. Kurz darauf sieht man ein kurzes Lächeln auf ihren Lippen. „Es gab auch ein bisschen Menschlichkeit in dieser grausamen Zeit“, erinnert sie sich. Ein SS-Mann habe zehn jüdische Männer aus anderen Lagern holen lassen, um bei dem Begräbnis ihres Vaters zu helfen. 20 Jahre später habe ihr Bruder, auf Wunsch der Mutter, die Gebeine des Vaters nach Israel geholt.

Sara Atzmon berichtet von ihrem sieben Kilometer langen Marsch zum KZ Bergen-Belsen in zwei verschiedenen Schuhen, die man ihr vorher zuteilte. Ein halbes Jahr lang habe sie dort verbracht und jeden Morgen bis zu fünf Stunden beim Appell im Schnee gestanden, sagt sie. „Als Kind überlegte man dann, auf welchem Bein stehe ich jetzt? Dem mit dem roten Kinderschuh oder dem mit dem schwarzen Frauenschuh mit Absatz. Ich entschied mich für den Absatzschuh, dann war der Schnee weiter vom Fuß entfernt“, erinnert sich die Zeitzeugin. Uri Atzmon zeigt einen Ausschnitt einer Dokumentation mit Aufnahmen aus Bergen-Belsen.

Auch von ihrer Befreiung durch das amerikanische Militär 1945 erzählt die Zeitzeugin: „Wir wurden wieder in einen Zug gepackt und sollten nach Auschwitz geschickt werden. Wir kamen nur 100 Kilometer weit, dann sind die Deutschen geflüchtet. Wir waren fast verhungert, als uns die Amerikaner fanden.“ Sara Atzmon war zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt und wog nur noch 17 Kilogramm.

Plötzlich strahlt die Überlebende voller Hoffnung: „Wir sind seit 70 Jahren verheiratet. Ich habe sechs Kinder, viele Enkel und Urenkel – ich habe den Krieg gewonnen!“ Sie lacht und wirkt kurz darauf doch wieder nachdenklich, „aber ich habe auch 60 Familienmitglieder im Holocaust verloren.“ Nach der eindringlichen Schilderung ihrer Kindheit im NS-Regime regen Uri und Sara die Schülerinnen und Schüler noch dazu an, Fragen zu stellen und nehmen sich die Zeit, jede einzelne zu beantworten.

Am Ende der Veranstaltung holt die Holocaust-Überlebende eine Mundharmonika aus ihrer Tasche. „Es ist ein jüdisches Lied. Mein Vater spielte es uns jeden Freitagabend vor, wenn wir mit der gesamten Familie zu Abend aßen“, sagt sie und beginnt zu spielen. Es ist ein sehr bewegender Moment zum Abschluss.

Hintergrund: Sara Atzmon

Sara Atzmon, Geburtsname Gottdiener, wurde 1933 in der kleinen Stadt Hajdunanas in Ungarn geboren. Als das 14. von 16 Kindern einer jüdisch-orthodoxen Familie überlebt sie das NS-Regime und immigriert nach der Befreiung im Jahr 1945 nach Palästina.

Bis Sara zwölf Jahre alt war und nur noch 17 Kilogramm wog, durchlebte sie Deportationen, Zwangsarbeit, Ghetto und Konzentrationslager. Dabei verlor sie 60 ihrer Familienmitglieder, darunter ihren Vater, drei ihrer Brüder, vier Cousins, ihre Großmutter und viele mehr. 1954 heiratete sie Uri Atzmon, einen gebürtigen Israeli aus Kfar Sirkin, mit dem sie sechs Kinder bekam. Bis heute lebt die Familie in dem Ort in Israel. Nach mehreren Jahrzehnten des Schweigens begann Sara zu malen und verarbeitete so ihre Vergangenheit.

Viele ihrer Kunstwerke sind in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, im Parlament und in anderen Museen und Schulen in Israel ausgestellt. Internationale Ausstellungen, wie in Ungarn, Österreich, Deutschland und den USA begleitet die Zeitzeugin mit persönlichen Erklärungen.

Seit rund 20 Jahren besucht die Holocaust-Überlebende Schulen, Universitäten und Erziehungszentren in der ganzen Welt, um über ihr Schicksal und das vieler anderer Opfer des Nationalsozialismus zu sprechen.

(Der Text beruht auf der Berichterstattung der NRZ vom 7.9.2022 zur Veranstaltung mit Sara Atzmon am OHG in Dinslaken)

Eindrücke von der Veranstaltung mit Sara Atzmon